Ein Vorteil der Selbständigkeit ist es, dass man sich entwickeln darf, wenn man will. Für mich, der sich 20 Jahre lang nur mit harten Themen, Finanzprodukten, Zinsen, Prozenten und allenfalls etwas Verkaufspsychologie beschäftigen durfte, war das, als gäbe man mir nach langem Herumirren in der Wüste endlich Wasser!
Ich habe mir geistiges Handwerkszeug angeschafft, meine Beratung umgestellt, eine NLP-Ausbildung gemacht, bin Geldlehrer geworden und bin gewachsen.
Deutlich über mich selbst hinaus. Und ich bin noch lange nicht fertig!
Die Frau, die sich vor 6 Jahren ihre Honorarberatungs-GmbH gegründet hat, gibt es nicht mehr – und ich bin froh darüber.
Nicht, dass ich mich damals nicht hätte leiden können, dass ich die Bankkarriere hätte missen möchten oder dass ich die harte unternehmerische Anfangszeit bereue: Alles war wichtig, alles war logisch, alles musste so sein, damit ich lernen konnte.
Wie allein schon der letzte Satz beweist, hat also eine gewisse – landläufig als esoterisch bezeichnete – Grundhaltung in mein Leben Einzug gehalten. Dazu stehe ich. Es gibt Dinge, die kann man nicht beschleunigen.
Ich habe gelernt, dass auch Begegnungen mit Menschen, die mich viel Geld und Nerven gekostet haben, wichtig waren (die sogenannten Arsch-Engel), dass Erfolg nicht alleine vom Geschäftsmodell abhängt und dass Menschen dort abgeholt werden müssen, wo sie stehen (wie ich diesen Spruch hasse!) – weil sie sich nicht verändern, sondern nur entwickeln können.
Und wichtig ist, dass ich nicht diejenige bin, die sie entwickelt – sondern dass ich ihnen nur Impuls,Wissen und Handwerkzeug anbieten kann, damit sie selber daraus machen, was ihnen dienlich ist.
Ich bin also mittlerweile auch das, was man als Coach bezeichnet.
Coaching ist weit weg von der Finanzberatung – und doch wieder nicht. Die veränderte Grundhaltung, mein entwickeltes Mindset (auch so ein schönes Wort) hat auch meine klassische Vermögensberatung beeinflusst: Ich könnte heute gar keine Finanzprodukte mehr verkaufen, selbst wenn ich müsste. Ob Honorarvermittlung oder Provisionsverkauf – das ist vorbei, durch, gegessen.
Ich mache Strategieberatung und vermittle Wissen über ökonomische Zusammenhänge. Ich bin besser als früher. Anders, aber besser. Meine Depots sind erfolgreicher, meine Gespräche intensiver, meine Kunden schlauer und glücklicher – alles ist gut.
Und natürlich mag ich es gerne, auch andere Coaches zu meinen Kunden zu zählen.
Allerdings ist diese Welt genauso abgefahren wie die Finanzwelt:
Was auf der einen Seite knallharter Kaptalismus und skrupelloses Ausnutzen aller sich bietenden Gelegenheiten ist, ist auf der anderen Seite ein gnadenloses Ignorieren wirtschaftlicher Wahrheiten und das Herbeibeten gesellschaftlicher Veränderung.
Angebote zu „Kosmischem Strahlencoaching“ überfordern mich – genauso wie mir ein Programm mit Namen „Rufe den Engel in Dir“ mir Gänsehaut macht (habt Ihr „Der Exorzist“ gesehen?).
Wer mir erzählen möchte „Nimm Dein Leben an und sei glücklich“ macht mich echt sauer, denn ich hasse es, wenn jemand behauptet, Leben passiere einfach – ohne unser eigenes Zutun.
Und wer mich mit „Licht für Deine Seele durch Handauflegen“ erhellen will, macht mich ganz kribbelig – und obwohl ich mich bis dato für vollkommen bedarfslos hielt, möchte ich sofort einen Termin bei einem ordentlichen Psychotherapeuten ausmachen.
Es gibt dort nichts, was es nicht gibt. Parallelwelten, in denen ich mich nicht zurechtfinde.
Und neben diesen Schwebern, Leuchtern und Allesannehmern gibt es natürlich auch die Nagelstudio-Coaches.
Ihr wisst nicht, was Nagelstudio-Coaches sind?
Naja, das sind die, die Reiki mit Coaching verwechseln. Und die, die dir helfen, Deine Kinder großzuziehen – weil sie ja selbst schon einmal Eines großgezogen haben. Oder die, die Dir beibringen, dass die Farbe Deiner Hose im Zusammenhang mit der Farbe Deiner am Morgen gegessenen Frühstücksflocken entscheidend für den Erfolg Deines Vorstellungsgespräches am Nachmittag ist.
Ich habe nichts gegen Nagelstudios, bitte versteht mich da richtig. Aber die wenigsten Nagelstudios im Keller des Eigenheims sind ein echter Haupterwerb – und die Fertigkeiten, die frau (es sind ja meistens Frauen, nein?) dazu benötigt, Nägel zu machen, dürfte mehr von ihrem künstlerischen Talent und ihrer Neigung als von ihrer Bildung und ihrer Erfahrung abhängen.
Naja, jedenfalls bezeichnen sich auch viele Nagelstudio-Coaches als Coaches eben. Prinzipiell ist mir das egal – wenn sie denn nicht anderen Unternehmern erzählen wollten, wie die Welt funktioniert: Nimm die richtigen Frühstücksflocken und alle Deine Probleme lösen sich in Luft auf! Wünsch Dir den Erfolg auf die richtige Art und er wird sich einstellen. Bau dir den richtigen Zielkunden und er wird Dich finden.
Wenn ich mir also diese Wunderwelt des Coachings so anschaue, erstaunt es mich nicht, dass laut einer Befragung von TrainingAktuell nur 1% der befragten Coaches (hier gibt es einen interessanten Artikel dazu) von Ihrer Berufung leben können. Denn wenn ich nur coachen könnte, würde ich Luftballons verkaufen – und könnte natürlich nicht davon leben. Und es wundert mich auch nicht, dass Coaching außerhalb des harten Businesskontexts einen mittlerweile zweifelhaften Ruf aufbaut.
Denn „Coaching“ selbst ist eigentlich nur eine besondere innere Einstellung, die zum Ziel hat, anderen zu helfen, eine eigene Lösungskompetenz zu entwickeln anstatt selbst die Lösungen zu konstruieren. Coaching soll Menschen bewegen, damit sie sich selbst bewegen können.
Deshalb bin ich überzeugt, dass neben dieser Coaching-Fähigkeit mindestens eine weitere Feldkompetenz nötig ist, um halbwegs erfolgreich zu sein: eine echte Fachkompetenz, ein echtes Thema. Ein Coach muss wissen, wovon der andere redet, damit er die richtigen Fragen stellen kann: Ob das Finanzen sind oder Steuern, ob Marketing oder Pädagogik – was genau, ist egal – aber eine fundierte Ausbildung muss sein.
Denn auch wenn Buddha 15 Jahre unter einem Baum saß und es bestimmt harte Arbeit war bis er die Erleuchtung fand – in unserer Gesellschaft würde er damit sicher nicht genug Geld verdienen, um davon leben zu können.
In unserer Realität braucht es mehr als Erleuchtung.
Liebe Anette,
der gute Buddha wäre in unserer Gesellschaft entweder verhungert oder als Obdachloser zur Bahnhofsmission gebracht worden ;-).
Du findest mit klarem Blick der Realität entsprechende Worte, vertrittst deine Meinung und zeigst dein Erfahrung. Finde ich sehr erfrischend.
Ich bin gespannt auf die nächsten Themen hier.
Liebe Grüße
Sabine
Dankeschön! 🙂
Sehr schöne begriffe verwendet, wie z.B. der „Lichttänzer“!